Walter Pichler
Walter Pichler wurde 1936 in Deutschnofen in Südtirol geboren und wuchs ab 1940 in Telfs in Nordtirol auf, wo er die Kunstgewerbeschule in Innsbruck besuchte. Von 1955 bis 1959 studierte er Grafikdesign an der Universität (damals Hochschule) für angewandte Kunst in Wien. Er verbrachte mehrere Jahre im Ausland, 1959 in Paris, wo er Bildhauerei studierte, und von 1963 bis 1964 in New York, von wo aus er nach Mexiko reiste. Im Jahr 1966 war er "Visiting Critic" an der Rhode Island School of Design in New York, USA. 1963 widmete die Galerie nächst St. Stephan in Wien zusammen mit Hans Hollein den Künstlern, die beide im Grenzbereich von Skulptur und Architektur arbeiteten, eine erste Ausstellung. Im Jahr 1967 waren Werke von Pichler in einer Ausstellung im Museum of Modern Art (MoMA) in New York und auf der Biennale de Paris zu sehen. 1968 nahm er an der 4. documenta und 1977 an der 6. documenta in Kassel, Deutschland, teil. Ab 1972 lebte und arbeitete Pichler zurückgezogen in einem alten Bauernhaus in Sankt Martin an der Raab im Südburgenland, wo er einzelne Gebäude für seine Skulpturen errichtete. Lehraufträge an Universitäten und staatliche Auszeichnungen lehnte er fast immer ab. Im Jahr 1987 nahm er den Max-Beckmann-Preis der Stadt Frankfurt am Main an. 1987 wurde er mit dem Großen Österreichischen Staatspreis für Bildende Kunst ausgezeichnet. Walter Pichler lebte in Sankt Martin im Burgenland, Österreich, und in Wien, wo er 2012 starb.
Die ersten plastischen Arbeiten Pichlers entstanden 1959, und in den folgenden Jahren entwickelte er architektonische Werke zu Stadtentwürfen und sakralen Bauten. 1963 stellten Pichler und Hans Hollein gemeinsam in der Galerie nächst St. Stephan in Wien ihre utopischen Architekturmodelle aus. Im Katalog zur Ausstellung veröffentlichte Pichler auch sein Manifest "Architektur". Pichler arbeitete in diesem Jahr (mit Ernst Graf) am Buch "Otto Wagner 1841-1918" von Max Peintner und Heinz Geretsegger und begann seine Zusammenarbeit als Buchgestalter mit dem Salzburger Residenz-Verlag, wo auch die meisten seiner Bücher erschienen. 1965 bis 1967 war Pichler mit Sokratis Dimitriou, Günther Feuerstein, Hans Hollein und Gustav Peichl Gestalter und Herausgeber der visionären Architekturzeitschrift "Bau. Schrift für Architektur und Städtebau."
1965 entstand für die "Biennale de Paris" gemeinsam mit Hans Hollein und Ernst Graf das Projekt "Minimalumwelt", eine Telefonzelle mit verschiedenen zusätzlichen Lebensfunktionen. Ein Jahr darauf produzierte Pichler seine ersten "Prototypen" (1, 3, 5 und 6), eine legendäre Werkgruppe, die damals wie heute bei ArchitektInnen und KünstlerInnen große Resonanz findet. 1966 entwickelte Pichler auch den "Galaxy Chair", einen Aluminiumstuhl, gefedert wie der 2CV Citroën. Mit "Visionary Architecture" zeigte 1967 das Museum of Modern Art in New York Arbeiten von Raimund Abraham, Hans Hollein und Walter Pichler. Pichler nahm an der Architekturausstellung "Urban Fiction" in der Galerie nächst St. Stephan mit einem Diavortrag teil. In diesem Jahr entstanden der "TV-Helm" und weitere "Prototypen" (2, 4, 7, 8). Anlässlich einer Freiluftausstellung zu den Kulturtagen in Kapfenberg entstand der Außenteil des "Großen Raumes" ("Prototyp 3"). Für die "Biennale des Jeunes" 1967 in Paris realisierte Pichler die "Passage", eine mehrteilige, begehbare Skulptur, die als Set für William Kleins Film "Mr. Freedom" verwendet und bei der Abschlussszene zerstört wurde. 1967 wurden die "Prototypen" in der Taxisgalerie in Innsbruck sowie in der Galerie nächst St. Stephan in Wien ausgestellt. 1968 nahm Pichler mit Oswald Oberhuber, Bruno Gironcoli, Hans Hollein und Roland Goeschl an der Ausstellung "Super-Design" in der Galerie nächst St. Stephan teil, und zeigte die "Prototypen" auf der Documenta 4 in Kassel.
Die Prototypen stellen einen erratischen Block in Pichlers Oeuvre dar. Mehr architektonische Environments als Objekte, die im Grenzbereich von Architektur-Design-Skulptur liegen, sind sie vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Veränderungen und politischen Ereignisse der 1960er Jahre entstanden. Pichler nahm in der Herstellung Anleihen aus der Auto- und Raumfahrtindustrie und verwendete Materialien, die damals in der Kunst nicht gängig waren, wie Kunststoffe oder Aluminium sowie pneumatische Elemente. Die meisten der Objekte laden zur Benützung ein. Obwohl die Bezeichnung "Prototyp" auf eine geplante maschinelle Serienproduktion hinweist, wurden sie vom Künstler manuell gefertigt. Werke wie der "TV-Helm", oder der "Kleine Raum" ("Prototyp 4") greifen das Thema der "Isolationszelle", das bereits in der "Minimalumwelt" (1965) behandelt wurde, auf und thematisieren in zynischer Weise Medien wie Fernsehen oder Telekommunikation.
1972 erwarb Pichler einen Bauernhof in St. Martin im Südburgenland und beschäftigte sich mit Zu- und Umbauten für seine Skulpturen. Nach zahlreichen Ausstellungen im In- und Ausland legte er eine längere Pause von der Ausstellungstätigkeit ein. Seit Anfang der 1990er Jahre stellte er seine Werke wieder regelmäßig aus. Nach einer Unterbrechung in den frühen 1970er Jahren knüpfen diese Arbeiten an die Zeit vor den "Prototypen" an. In einer großen Ausstellung machte die Generali Foundation 1998 Walter Pichlers "Prototypen"-Gruppe zum ersten Mal seit 30 Jahren wieder der Öffentlichkeit zugänglich. (Sabine Breitwieser)