Atlas
Alice Creischer/Andreas Siekmann
Atlas, 2003-
Aktualisierung des Atlas von Gerd Arntz und Otto Neurath
Print, 3 works of the same editoin 18 plates each Digital inkjet print, lightfast pigment print on archival paper 1 plate 61 x 80.8 cm each, 17 plates 40.4 x 61 or 61 x 40.4 cm each, Signed, dated and numbered 1,2 and 3/7 The series shall be continued.
WG0030663.00.0-2006
Artwork text
Zur Aktualisierung des Atlasses von Arntz und Neurath 1929 begannen Gerd Arntz und Otto Neurath im Wiener Institut für Bildstatistik die Arbeit am Atlas „Gesellschaft und Wirtschaft. Bildstatistisches Elementarwerk“. Der Atlas umfasst hundert Blätter, die über die aktuellen Verhältnisse der zeitgenössischen Wirtschaft und über ihre historischen und kulturellen Hintergründe informieren sollten. In der Methode der Visualisierung dieser Information geht es um Mengenbegriffe. Man sieht keine Zahlen und Kurven, die vorgeben, sofort erfassbar zu sein. Man ist vielmehr gezwungen, im Lesen anzuhalten und eine gewisse Zeit mit dem Zählen bzw. der Relation von Mengen zu verbringen. Was uns besonders an der grafischen Arbeit von Gert Arntz faszinierte, war die potenzielle Aufforderung der bildnerischen Elemente, die Verhältnisse, die sie beschrieben, umzukehren. Damals war das eine Widmung an die Räterevolutionen und ihre Fabrik- und Kasernenbesetzungen. Als der bildstatistische Atlas 1930 in Leipzig erschien, schreibt Gerd Arntz dazu in der Zeitung a bis z, dem theoretischen Organ der anarchistischen Künstlergruppe „Kölner Progressive“: „Eine Bilderkunst des Bürgertums kann es nicht mehr geben. […] Wir zeigen die Starre und Enge unserer Lebensformen auf und die Kräfte, die die Zusammenballung an den Konzentrationspunkten, an den Arbeitsstätten bejahen und sie zur Aufhebung eines Lebens bringen, das oben und unten verweigern möchte. Wenn Inhalt, dann die Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit.[…] Bei der Statistik ist es auch so. Es ergibt sich aus den Zahlen und Mengen, aus der Entwicklung und Bewegungsrichtung von Produktionszweigen und Menschenorganisationen der Eindruck des Endes des bisherigen Wirtschaftens. […] Es ist noch ein Anfang. Aber im Weiterausbilden des Begonnenen wird es möglich sein, unsere Abhängigkeiten und Möglichkeiten, soweit sie von Material und dessen Mengen gebunden sind, zu zeigen und unser heutiges Leben zu analysieren, Forderungen zu stellen und dem Erkannten einen Druck zur Realisierung zu geben.“1 Der Atlas zeigt, wie sehr die Ethik von Rationalisierung, Technik, Modernität in dem Projekt der Bildstatistik mit einem linken revolutionären Selbstverständnis verbunden war. Es fällt heute etwas schwer, sich z.B. dieser Bildsprache in der Dringlichkeit und Aktualität ihrer Zeit zu widmen, d.h. ihre eigentlichen Adressaten – die damaligen Arbeiter und Arbeiterinnen – nicht aus dem Gedächtnis zu verlieren. Andererseits möchten wir versuchen, indem wir diese Bildsprache wieder aufgreifen, ihr Engagement und ihr künstlerisches Selbstverständnis auf die Gegenwart zu übertragen. Im Sommersemester 2003 und im Wintersemester 2003/2004 haben wir zusammen mit StudentInnen der Universität Lüneburg zehn Blätter des Atlas aktualisiert. Wir verstanden die Aktualisierung als eine bewusste Entgegnung zur scheinbaren Objektivität von wissenschaftlichen Statistiken in der Prognose und Beurteilung gesellschaftlicher Verhältnisse, die oft nur ideologische Beipflichtungen zu den Intentionen ihrer Auftraggeber sind. Jedes der 100 statistischen Blätter soll durch ein neues ergänzt werden – entweder als einfache Aktualisierung (z.B. wie bei dem Blatt Streiks und Aussperrungen), bewusste Entgegensetzung oder Detail – wie z.B. bei den Blättern zu Sklaverei und Kolonialismus, nun eher die Konferenz von Durban zu behandeln und die Reparationsforderungen der afrikanischen Staaten gegenüber den USA. Es geht nicht um repräsentatives Wissen, sondern um Sachverhalte, die durchaus abrufbar sind, deren Erwähnung aber den alltäglichen Comon sense verletzt - z.B. Statistiken zu Auszahlung der Zwangsarbeiter, Produktionsauslagerungen europäischer Firmen in Billiglohnländer …etc. In dieser Zusammenarbeit wurden folgende Blätter aktualisiert Staaten und Bevölkerung um 1500 Rüstungen vor dem Krieg und jetzt Reparationen Gesellschaftsgliederung in Nürnberg Wanderbewegungen wichtiger Länder Reallöhne Ökonomische Ungleichheit Streiks Kartografische Übersicht Die Aktualisierung wurde fortgesetzt innerhalb einer Projektgruppe des Fachbereichs Wirtschaftswissenschaften der Universität Klagenfurt, mit denen wir eine Aktualisierung der Blätter „Monopolartige Produktionen“ erarbeiteten für den Kunstraum Lakeside. Dabei kam es uns vor allem auf eine Kritik des TRIPS Abkommens an und auf die damit festgelegten Intellectual Property Rights. TRIPS wurde innerhalb der WTO von einer Lobbygruppe namens Intellectual Property Commity (darunter die zwölf größten US-Konzerne) beeinflusst. Das Agreement ermöglichte, Lebensformen, Pflanzen und Tierzüchtungen zu privatisieren und Monopole auf Saatgut oder Medikamente einzurichten. Ein Beispiel für die Politik von TRIPS ist die Weiterentwicklung von CopyrightRechten, die für einen besonders hohen Grad von Monopolisierung in der Computersoftware und Kommunikationsbranche sorgt. Der neue Teil der Universität Klagenfurt, in dem wir die aktualisierten Blätter als Wandtafel installierten, ist ein Beispiel für die aktuellen Joint Ventures zwischen Technologieunternehmen und der Universität. Deswegen haben wir die beiden Blätter „Monopolartige Produktionen europäischer und außereuropäischer Länder“ in diesem Kontext aktualisiert. Wir haben uns vorgenommen, die Aktualisierung über einen längeren Zeitraum weiterzuverfolgen und sie immer wieder ortspezifisch anzuwenden. 1 Gerd Arntz: Bewegung in Kunst und Statistik, in: „a bis z“, theoretisches Organ der „Gruppe Progressiver Künstler“, Köln 1931.